Gegenwart II
Info
Mit einer zweifachen Diagroßprojektion verwandelt sich die Galerie der Gegenwart bei Einbruch der Dunkelheit in eine dekonstruktivistische Skulptur. Der markante Gebäudekubus wird über eine Perspektivverschiebung destabilisiert. Er mutiert zu einem hybriden Volumen, dessen Erscheinung je nach Blickrichtung stark variiert. Die Überlagerung von Licht und Materie führt in diesem Aufbau zu erstaunlichen Sehstörungen.
Doppeltes Präsens
Anamorphose versus Perspektive
Die Galerie der Gegenwart, als markanter weißer Kubus der Hamburger Kunsthalle be- kannt, wurde im Oktober 2010 durch die Lichtinstallation von Hinrich Gross in eine be- fremdliche dekonstruktivistische Skulptur verwandelt. In Anspielung auf die grammatische Zeitform Futur II nannte er seine Arbeit „Gegenwart II“. Der sprachlichen Zwitterform aus Zukünftigem und Vergangenem entsprach die visuelle Doppelwertigkeit seines Seh- experiments. Das Museum, etwas erhöht gegenüber der Alster gelegen, bot also sowohl seiner Bezeichnung nach eine ideale Plattform als auch als konkrete Projektionsfläche, zumal das Gebäude mit seiner klaren, auf dem Quadrat basierenden Architektur und der hellen Fassade mit horizontalen und vertikalen Fensterbändern einen weithin sichtbaren Markstein im Stadtbild darstellt.
Für die Dauer der Lichtinszenierung geriet dieses bekannte Bild jedoch buchstäblich ins Wanken: Mithilfe von zwei Diagroßprojektionen wurden zum Ende der Sommerzeit von der gegenüberliegenden Straßenseite die Fassaden der Galerie der Gegenwart in pers- pektivischem Versatz auf die beiden Hauptfronten des Museums projiziert. Der bis dahin reine Kubus des Museums verschob sich nun zu einem mehrseitigen, fast kristallinen Bau. Fensterbänder schienen nicht nur überlagert und verdoppelt, sondern das ganze Gebäude rutschte aus der sicheren Achse des Quadrats in einen hybriden Zustand. Zwischen realer und virtueller Architektur war teils kaum zu unterscheiden und dem Betrachter vermittel- te sich der Eindruck einer vollkommen destabilisierten Architektur.
Obwohl die Projektion als Standbild auf die Fassade geworfen wurde, befand sich das ganze Gebäude in einem Zustand ständiger Transformation.Wechselnde Blickrichtungen ließen Zuschauer und Autofahrer, die sich im Straßenraum um die Galerie der Gegenwart bewegten, zu variablen An- und Einsichten kommen. Die Überlagerung von baulichen
und projizierten Fenstern, von tatsächlicher Dachkonstruktion und scheinbar nach vorn einknickendem Dachrand führte zu echter Irritation bei dem Versuch, die ursprüngliche Form des Gebäudes zu rekonstruieren, sodass für den Moment der Projektion nicht nur die Architektur, sondern auch das Phänomen ihrer Wahrnehmung infrage gestellt wurde.
Petra Roettig